Für die Aktiven ist der Galoppsport eine Art existentieller Zeitvertreib. Kraftvollen Rennpferden zuzusehen, erfordert zumindest eine ästhetische Perspektive, wenn man das Umfeld als eine eigene Welt verstehen will, in der man ohne Umschweife zum Wesentlichen kommt.
Wer also einen rauschhaften Siegestaumel erleben will, muss sich zuvor dem Wettkampf stellen, einer Art Gewährleistung des gegnerischen Widerstands und die bewusste Inkaufnahme des Scheiterns. Dieses Gespenst des Scheiterns umgibt Dich allerspätestens im Führring und möchte Dich in die Leere des Nichts zerren; ein unscharfes Gefühl zieht plötzlich auf, wenn klar wird, dass man sich dem bevorstehenden Ereignis nicht mehr entziehen kann.
Mittlerweile dreijährig, stand für Mooniac der erste Saisonstart am 17.5. in der Neuen Bult an. Endlich eine längere Distanz, ein 2200-Meter-Rennen. Der Schlenderhaner Favorit war am Toto auf 1,4 heruntergewettet. Mooniac stand bei 7,9. Die Sportwelt sah ihn immerhin als Dritten und schrieb: „Kam bei seinem zweiten Start als Zweijähriger immerhin schon ins Mittelfeld, hat noch einige bessere Nennungen, sollte man nicht unberücksichtigt lassen.“ Im Führring machte Mooniac wieder einen sehr coolen Eindruck, die Anreise nach Hannover schien ihm nichts ausgemacht zu haben. Jockey Bauryzhan bekam sein Briefing vom Co-Trainer und als ich ein paar Fotos mit dem Smartphone machen wollte, sagte er nur knapp: „Lass mal, wir machen gleich richtige Fotos bei der Siegerehrung.“ Das Gespenst des Scheiterns war sofort verflogen und Hoffnung machte sich breit. Ich war baff. Mooniac kam gut aus der Startbox und da niemand vorne gehen wollte, beorderte ihn Bauryzhan an die Spitze. Am Ende der Gegengeraden drückte der Schlenderhaner aufs Tempo, doch Mooniac blieb dran und konnte sich im Einlauf sogar lösen.
Plötzlich schob sich der längste Außenseiter namens Leipzig an den Rails vorbei und lieferte Mooniac einen echten Kampf um die Spitze, doch Mooniac streckte sich und kam sicher ins Ziel. Boom. Erster Start 2019 und gleich ein Volltreffer.
Das Derby immer im Hinterkopf, ließen wir die schwer zu knackende Union in Köln am 10.6. als zweiten Start aus und entschieden uns für eine vermeintlich leichtere Aufgabe am 9.6. in Hoppegarten. Diesmal gehörte Mooniac gleich zum Favoritenkreis und die Sportwelt schrieb: „Eigentlich sollte sich Mooniac, der bis Mitte der Woche als Starter für die Kölner Union galt, schadlos halten und gleich für den nächsten Sieg seines Vaters Sea the Moon sorgen. Der Weg zum Erfolg führt in dieser 2200 Meter Prüfung wohl nur über Mooniac, der gleichzeitig eine weitere Top-Chance für Bauryzhan Murzabayev darstellt.“ Doch im Führring wurde die Welt auf den Kopf gestellt, der Trainer blickte skeptisch drein, der Boden zu trocken und zu schnell und so richtig cool sah Mooniac diesmal gar nicht aus. Er galoppierte auch nicht rund und wurde im Einlauf bis hinten durchgereicht. Letzter. Auweia. Plötzlich war das Gespenst des Scheiterns wieder da und zerrte mich ins Nichts. Ich stand völlig neben mir und konnte nur noch stammeln. Am nächsten Tag blühte seinem Trainingspartner Andoro in der Kölner Union auch noch das gleiche Schicksal. Fuck.
Was bleibt, ist: Ausruhen, Untersuchen, Aufbauen, Trainieren. Doch nach einem Scheitern nicht aufzugeben, angesichts dieser elenden Misere und fast geplatzten Träume, ist in unserem System, in dem man laut Nietzsche entweder Rad sein muss oder selbst unter die Räder gerät, unverzichtbar. Sportlich gesehen sind es keinesfalls die großen Siege und Niederlagen, die unser Leben plausibler machen, nein, es sind vielmehr die kleinen Niederlagen (KNV-Insolvenz) und alltäglichen Demütigungen (Abwerben von erfolgreichen Autoren durch Konzernverlage), die einen erkennen lassen, dass wir möglicherweise nicht nur das auf uns nehmen, was wir selbst tun, sondern auch das schlucken müssen, was uns angetan wird. Schon der Wettbewerb als solcher, also der Wesenskern der Marktwirtschaft, wäre demnach unfair und unmoralisch, wenn sich dort unter Applaus der Neoliberalisten automatisch immer nur der Stärkere durchsetzte. Gäbe es wie bei einem sportlichen Wettkampf feste Regeln für alle, könnte es auch fairen Wettbewerb geben. Wir stemmen uns mit dem Mut des Verzweifelten gegen diese Entwicklung und versuchen, dem Schicksal trotzig ein paar Peanuts abzugewinnen, aber kann man sie wirklich aufhalten?
Das ist übrigens auch das Thema unseres neuen Titels von Jim Nisbet: Das Setting seiner früheren Wahlheimat San Francisco und die Psychogeografie finden sich auch im neuen Roman wieder, wo man nun vollends umgeben ist von Geld und Technologie und die Welt der altbewährten Form zwischenmenschlicher Kommunikation Rückzugsgefechte führt gegen eine Technologie der Kontrolle, die jede menschliche Regung registriert und analysiert. Nicht nur San Francisco hat sich verändert, sondern die ganze Welt – in eine Welt ohne Skrupel. Dieses Buch ist kein Nostalgietrip, sondern ein knallharter reality check. Kai Schwanke resümierte kürzlich in einer Rezension für die FAZ, Jim Nisbets Noir-Held hadere mit der Digitalisierung und „Solange Blut fließt und Knochen brechen, scheint dieser Roman zu sagen, brauchen wir uns um die Conditio humana nicht zu sorgen.“ Wenn nicht mal mehr hartgesottene Noir-Loser eine Chance haben, könnte man dem entgegnen, dann bröckelt mit aufgeweichter Moral der Schein allerorts alternativlos.
Und wie geht es mit Mooniac weiter? Nach und nach lichtet sich das Derbyfeld. Auch ohne Qualifikation gäbe es vielleicht eine Startmöglichkeit im Rennen des Jahres. Ob wir diese dann auch nutzen, entscheidet Mooniac mit seiner Form, der Wettergott mit weichem Boden und der Trainer mit einem glücklichen Händchen. Alles kann, nichts muss. Stay tuned.