Als Suhrkamp vor ein paar Jahren beschloss, auch Krimis machen zu wollen, und Winfried Hörning als geistiger Vater des Ganzen der WELT ein Interview gab und ausgerechnet Pulp Master als Konkurrenten ausmachte, da kam mir als Erstes die Geschichte von David gegen Goliath in den Sinn, später mischte sich Begeisterung dazu, dass ausgerechnet ein Schwergewicht des Buchbetriebs uns interessant fand, letztendlich wurde aber auch diese Begeisterung wieder von Sorgen abgelöst. Sorgen waren wir ja schon gewöhnt, die Krise war schließlich seit Anfang der Unternehmung ein blinder Passagier, und die Begeisterung war spätestens mit dem nächsten Kassensturz verflogen. Die Verlagsbranche ist nun mal ein kapitalintensives Geschäft und man musste bis an den Rand des drohenden Bankrotts einiges investieren, inklusive permanenter Selbstausbeutung, um überhaupt einen funktionierenden Kreislauf in Gang setzen zu können. Renommierte Publikumsverlage mit Großinvestoren hatten es da einfacher: Sie konnten immer wieder Geld in die Hand nehmen, auf bekannte Namen setzen und eine Mischkalkulation fahren. Doch über die Jahre wuchs auch die Erkenntnis, dass wir uns längst etabliert hatten und unsere ungewöhnlichen Titel als Alternative in einem unübersichtlichen Wust viel zu vieler belangloser Neuerscheinungen von einem kleinen, treuen Leserkreis wertgeschätzt wurden. Einen Anspruch auf ein Stück vom Kuchen, der mit den Jahren immer kleiner wurde, konnte man daraus zwar nicht ableiten, aber irgendwie blieb unser Stück über die Jahre immer genauso groß, auch wenn der zu verteilende Kuchen insgesamt zu schrumpfen schien.
Doch wechseln wir mit diesen Erkenntnissen kurz mal die Branche. Als Analogie zum schrumpfenden Kuchen, den die Verlage untereinander aufteilen, fällt mir hier immer der Galoppsport ein, der längst nicht mehr im Rampenlicht steht und den ich seit dem Derbysieg von Lavirco mehr oder weniger intensiv auf der Rennbahn oder in der »Sportwelt« mitverfolgt habe. Überalterte Strukturen und zahlungskräftige Mäzene halten den Betrieb jahrein, jahraus irgendwie am Laufen, trotz immer kleinerer Starterfelder, doch die Zugangsmöglichkeiten für Nachwuchs und ein Breitensportpublikum, das der Faszination des Sports automatisch erliegt, stellen sich auch nicht mehr von allein ein. Denn die Konkurrenz in der perfekt medial vermarkteten Industrie der Freizeitgestaltung ist nun mal sehr groß, und auf den Trend, folgt der nächste Trend. Die Zahl der Pferdebesitzer und Aktiven hat stetig abgenommen und der Sport wirkt überaltert, obwohl die deutschen Züchter gerade in den letzten Jahren weltweit bemerkenswerte Erfolge verbuchen konnten. Ich fieberte beispielsweise am PC via Livestream mit, als die Stute Danedream die Galoppwelt auf den Kopf stellte und 2011 erst den Prix de l’Arc de Triomphe in Paris und im darauf folgenden Jahr dann die King George VI And Queen Elizabeth Stakes in Ascot gewann.
Zuvor beim Großen Preis von Berlin hatte sie mich als unscheinbarer 9.000-Euro-Auktionskauf noch kalt erwischt, aber dann hatte ich sie Gott sei Dank immer auf dem Zettel. Ihr Vater, der großartige Lomitas, war Galopper des Jahres 1991, wie zum Teufel, hatte ich das in Hoppegarten nur übersehen können? 2014 siegte mit dem von Andreas Wöhler trainierten Protectionist zum ersten Mal ein deutsches Pferd im Melbourne Cup, dem höchstdotierten australischen Kultrennen schlechthin.
Wie ich selbst zum Galoppsport kam? Durch die Literatur! Ich las als Fünfzehnjähriger Unmengen Charles Bukowski und beschäftigte mich mit seinen Weisheiten, nachdem er seinen Job bei Postamt hingeschmissen und seinem Verleger geschrieben hatte: »Die Sklaverei wurde nie abgeschafft, sie wurde nur um alle Farben erweitert.« Er folgerte, dass man Arbeitssklaven nie genug bezahlte, damit sie frei werden können, sondern gerade genug, um am Leben zu bleiben und wieder zur Arbeit zu kommen. Diesem System konnte man sich offensichtlich entziehen, indem man barfly wurde oder auf die Rennbahn ging. Bukowski: »Ich ging durch die Menge. Stellte mich in die Wettschlange. Beschloss, in den letzten fünf Rennen zu setzen und dann zu gehen. Das Einzige, was mich hielt, war die Aussicht auf 200 Dollar die Stunde. Steuerfrei.« Das konnte ich gar nicht in Frage stellen, das musste ich selbst ausprobieren und das Flair und die Atmosphäre einer Rennbahn aufsaugen.
Sobald das Rennen gestartet wird und die Startmaschine sich öffnet, mischt sich eine Ungewissheit in den außerhalb des Rennens eigentlich klaren Ablauf der Ereignisse und in die Machtverhältnisse. Geld und Einflussmöglichkeiten spielen in diesem Moment keine Rolle mehr, wenn man von vereinzelten Dopingfällen einmal absieht. Der Zielpfosten fungiert als eine Art unbarmherziger Gleichmacher. Dem Ölscheich, der für ein exklusives Pedigree einen Haufen Kohle für sein Vollblut aus edelster Abstammung gelassen hat, wird das in diesem Moment genauso bewusst wie dem Besitzer des selbstbewussten und gut trainierten dark horse auf der Heimatbahn, einem umgebauten Gartenstuhl, der nun seine Chance wittert. Man konnte in diesem kurzen Augenblick, wenn die Regeln des Systems kurz ausgesetzt sind, als Wetter wenigstens an den Chancen partizipieren. Die Stewards mussten zwar gerade einen doppelten Gruppesieger wegen einem erhöhtem Cobalt-Blutwert disqualifizieren, doch insgesamt gilt Deutschland als eine der saubersten Rennsportnationen der Welt. Was unterm Strich bleibt, ist ein Schimmer von Hoffnung, angereichert mit einer Spur von Selbsttäuschung. Bukowski schrieb dazu: »Manchmal ist unser Einsatz gering. Wir brauchen den Rest. Eine große Niederlage oder ein großer Sieg kommt ohnedies bald.«
In seiner tollen Shortstory (dtv) »Miss Universe« über eine zweijährige gleichnamige Stute beschreibt William Saroyan die unterschiedlichen Charaktere in einem Wettbüro, und dass ein Pferd für manche Leute nicht bloß ein Pferd ist. »Es war etwas Subtileres, etwas Mystischeres. Mit dem Erfolg von ›Miss Universe‹ würde sich auch für Willie selbst der Erfolg einstellen.« Willie steht für die Mystiker unter uns. Für den tristen Realisten Mr. Levin dagegen »waren Pferde bloße Marionetten, hilflos und ein bisschen dumm. Er wollte hinter die dunklen Geheimnisse von Besitzern, Jockeys und gewieften Zockern kommen. Sein System zog sämtliche physischen Fakten im Zusammenhang mit einem Rennen in Betracht: die Distanz, das Gewicht und die Fähigkeiten des Jockeys, die Neigungen von Besitzer und Trainer, das Wetter in Iowa, die Anzahl der beim Rennen anwesenden Menschen, Lastwagenladungen von Rohprodukten, Ereignisse in Deutschland im Zusammenhang mit der Judenverfolgung, den Zustand seines eigenen Magens und den Geldbetrag, den die mit einem Tipp versorgte Person bei sich hatte. Kurz gesagt, alles.«
Kommen wir wieder zum Verlag und binden die losen Enden zusammen. Um eine Unternehmung wie Pulp Master gegen all die großen Player 30 Jahre durchzuziehen, muss man eine Mischung aus beidem sein: Mystiker und trister Realist. Und man muss Autoren mit genug Potential aus der Masse herausziehen und herausbringen und trotz des geringen Budgets unter den Besten sein. Soweit die Vorgaben. Nicht mehr, nicht weniger. Beim Boxen habe ich gelernt, dass man an sich glauben muss. Der Rest ist Kondition. Nun stellt sich folgende Frage: Kann man das hier Erlernte 1:1 auf den Galoppsport übertragen und unter 851 Fohlengeburten pro Jahrgang, von denen es nur zehn Prozent in die Jahrgangsspitze schaffen, ein Pferd herauspicken und es zum großen Jubiläum für Pulp Master erfolgreich an den Start bringen? Warum eigentlich nicht! Eine Prise Wahnsinn gehört dazu, genauso wie ein Blick auf den ersten Jahrgang des in der Rennkarriere erfolgreichen, aber in der Zucht noch nicht erkannten Görlsdorfer Sea The Moon, dem überlegenen Derbysieger von 2011.
Deshalb fiel der Hammer bei der BBAG Jährlingsauktion 2017 für den zuvor anvisierten Lot 115. Ein Maximum an Fantasie mit einem zuvor ausgemachten Fahrplan: Roland Dzubasz, der Erfolgstrainer aus Hoppegarten, ersteigerte für uns einen tollen Hengst aus der listenplatzierten Stute Margarita, deren Vater wiederum kein Geringerer als der schon erwähnte Lomitas war. Wahnsinn gepaart mit Moon, dafür gibt es nur einen Namen: Mooniac.